BAG-Ent­schei­dung/Arbeitszeit­erfassung

von Ronald Hüning

Renaissance der Stechuhr?

Was genau ist Pflicht, was Empfehlung? Gibt es Übergangsfristen? Welche Auswirkungen wird die Entscheidung auf das Arbeitsleben haben? Ist die Vertrauensarbeitszeit
jetzt tot? Seit dem 3. Dezember 2022 liegen die Entscheidungsgründe vor, die für weiteren Diskussionsbedarf sorgen werden.

Das BAG beruft sich in seiner Entscheidung auf ein bereits am 14. Mai 2019 gefälltes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Schon vor mehr als drei Jahren hatte dieser im sogenannten „Stechuhr-Urteil“ die Mitgliedstaaten in die Pflicht genommen, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Dem lag die EU-Arbeitszeitrichtlinie zugrunde, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, damit jedem Arbeitnehmer innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden und innerhalb eines Sieben- Tage-Zeitraums eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich einer täglichen Ruhezeit von elf Stunden gewährt wird. Darüber hinaus muss für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit eine – die Überstunden einschließende – Obergrenze von 48 Stunden vorgesehen werden. Nach dem EuGH-Urteil ist in Deutschland aber zunächst einmal nichts passiert. Allgemein wurde davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber diese Verpflichtung zunächst in nationales Recht umsetzten müsse.

BAG spricht Klartext
Dem hat das BAG mit der Entscheidung vom 13. September 2022 jedoch eine Absage erteilt und unmissverständlich klargestellt, dass es einer Umsetzung in nationales Recht nicht bedarf. Nach den Feststellungen des BAG ergibt sich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bei europarechtskonformer Auslegung schon aus der vorhandenen Regelung in § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). Wörtlich heißt es in der Urteilsbegründung: „Nach dieser Rahmenvorschrift hat der Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine ,geeignete Organisation‘ zu sorgen und die ,erforderlichen Mittel‘ bereitzustellen. Bei unionsrechtskonformem Verständnis beinhaltet die gesetzliche Regelung auch die – grundsätzliche – Verpflichtung der Arbeitgeber, ein System zur Erfassung der von ihren Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden umfasst.“ Das Urteil des BAG betrifft im Zweifel alle Arbeitnehmer in Deutschland, also rund 45 Mio. Beschäftigte. Für viele daVertrauensvon gilt die sogenannte „Vertrauensarbeitszeit“; sie können also eigenständig bestimmen, wann und wie lange sie arbeiten. Ob die „Vertrauensarbeitszeit“ nach der Rechtsprechung des BAG noch zulässig ist und welche weiteren Konsequenzen sich aus der Entscheidung des BAG für alle Arbeitgeber ergeben, soll nachstehend dargestellt werden:

Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt ab sofort
Da das BAG die Pflicht zur Zeiterfassung aus geltendem Recht herleitet, gibt es keine Übergangsfrist. Nach den Feststellungen des BAG besteht die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung eigentlich schon seit dem EuGH Urteil vom 14. Mai 2019, muss also von allen Arbeitgebern umgehend umgesetzt werden. Arbeitszeiterfassung kann digital oder analog erfolgen Nach den Feststellungen des BAG hat der Arbeitgeber – solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen wurden – einen Spielraum, in dessen Rahmen u. a. die „Form“ dieses Systems festzulegen ist. Die Arbeitszeiterfassung muss „nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen.“ Es ist also denkbar, die Aufzeichnungen automatisiert mit einem Arbeitszeiterfassungssystem oder händisch auf Papierlisten oder etwa in Excel-Tabellen führen zu lassen.

Delegation auf Arbeitnehmer zulässig
Die vorgenannten Aufzeichnungen muss auch nicht der Arbeitgeber machen. Vielmehr darf die Aufzeichnungspflicht als solche an die Arbeitnehmer delegiert werden. Die Grenze des Zulässigen hat das BAG insoweit wie folgt definiert: „Bei der Auswahl und der näheren Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems ist jedoch zu beachten, dass die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit Zielsetzungen darstellen, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.“ Dem Arbeitgeber obliegt daher sicherzustellen, dass die Aufzeichnungen auch tatsächlich gemacht werden.

Pflicht zur Zeiterfassung gilt für alle Arbeitnehmer und alle Betriebe
Das BAG stellt ferner fest, dass sich die den Arbeitgebern obliegende Pflicht, „ein System einzuführen und zu verwenden, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst werden, … auf alle in ihrem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer“ bezieht. Ausgenommen sind lediglich Geschäftsführer, Vorstände und leitende Angestellte. Letztere sind nach Arbeitsvertrag und Stellung im Unternehmen oder Betrieb zur selbstständigen Einstellung und Entlassung von im Betrieb oder in der Betriebsabteilung beschäftigten Arbeitnehmern berechtigt oder verfügen über Generalvollmacht bzw. eine Prokura. Ausgenommen von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist also nur ein extrem kleiner Personenkreis. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt in Unternehmen aller Größenordnungen. Es gibt nach der Entscheidung des BAG keine Ausnahmen für Kleinbetriebe. Vertrauensarbeit neu gedacht Ob Vertrauensarbeit nach der Rechtsprechung des BAG noch zulässig ist, richtet sich im Wesentlichen danach, was man unter diesem Begriff versteht: Wird unter Vertrauensarbeit das Recht auf selbstbestimmtes Arbeiten mit freier eigener Planung der Zeit verstanden, so ist dies weiterhin möglich. Dies setzt aber voraus, dass die tatsächlichen Arbeitszeiten auch ordnungsgemäß erfasst werden. Wenn unter Vertrauensarbeit das Arbeiten ohne jedwede Zeiterfassung verstanden wird, ist dies nach der Entscheidung des BAG nicht mehr zulässig. Auch bei Arbeitnehmern mit Vertrauensarbeitszeit müssen die Arbeitszeiten erfasst werden. Viele Arbeitgeber werden daher dieses Modell neu denken und sicherstellen müssen, dass auch bei Mitarbeitern mit freier Zeitgestaltung die tatsächlich angefallenen Arbeitszeiten erfasst werden. Entsprechendes gilt für die Homeoffice- Vereinbarungen.

Risiko von Geldbußen gering
Zwar können bestimmte Verstöße gegen die Vorgaben des ArbSchG mit der Verhängung von Bußgeldern geahndet werden. Hierfür bedürfte es in Bezug auf die Arbeitszeiterfassung aber zunächst einer vollziehbaren Anordnung nach § 22 Abs. 3 Nr. 1 ArbSchG, die theoretisch von der im jeweiligen Bundesland zuständigen Gewerbeaufsicht erlassen werden könnte. Hier sind bislang aber keine Fälle bekannt, bei denen eine initiative Kontrolle durch die Gewerbeaufsicht erfolgt ist.

Fazit
Die Arbeitszeiterfassung ist also schon seit Jahren dem Grunde nach geboten, die Form der Arbeitszeiterfassung bleibt aktuell aber dem Arbeitgeber überlassen. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass der Gesetzgeber nach der Entscheidung des BAG Einzelheiten zur Arbeitszeiterfassung regeln und etwa bestimmen wird, in welcher Form diese zu erfolgen hat. Geschieht dies, muss – wieder einmal – mit zusätzlichen Belastungen für die Arbeitgeber gerechnet werden.

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